Raphael Pichler ist Orthopädieschuhmachermeister – ein Beruf mit Zukunft
Von Janine Bergmann (erschien am 13.09.2019 in der Landshuter Zeitung)
„Schuster bleib bei deinen Leisten“. Dieses Sprichwort kennt wohl jeder, und dabei sollte man es auch belassen – beim Sprichwort. Raphael Pichler ist Orthopädieschuhmachermeister und weit mehr als „nur“ ein Schuster. Als Orthopädieschuhmacher erstellt er orthopädische Haltungsanalysen und fertigt orthopädische Maßschuhe und Schuhzurichtungen, Einlagen und Orthesen. Er führt Anamnesegespräche mit Kunden und schaut deren Füße an. „Wir sind Handwerker – also nehmen wir die Füße auch in die Hand“, sagt der junge Meister aus Weng. Ob die Kunden nun eine Fußfehlstellung oder Gehbehinderung haben, oder wie Sportler ihren Bewegungsapparat optimieren wollen – alles Anliegen, bei denen der Orthopädieschuhmacher Abhilfe schaffen kann. Zudem verkauft er Bandagen, Schienen, medizinische Kompressionsstrümpfe und konfektionierte Therapieschuhe.
Raphael Pichler arbeitet seit zwei Jahren als Meister im elterlichen Betrieb, den er in der siebten Generation zusammen mit seiner Mutter führt. Das Beeindruckende: Pichler ist erst 25 Jahre alt und steht mit beiden Beinen fest im Berufsleben. Aber der Reihe nach.
Fuß fassen
„Ich habe 2010 meinen Realschulabschluss gemacht und erst mal nicht gewusst, was ich machen soll“, erzählt Pichler. Also habe ich verschiedene Praktika gemacht: etwa im Zeichnungsbüro, als Mechaniker für Büromanagement, Industriemechaniker und Feinwerkzeugmechaniker – insgesamt waren es acht Stück, bevor ich zu dem Entschluss gekommen bin, mir den Beruf meiner Mutter doch mal genauer anzuschauen, und schließlich eine Lehre anzufangen. „Denn im Grunde bin ich im Kinderwagerl in der Werkstatt groß geworden und meine Mama hat gearbeitet – viel gearbeitet.“ Die Mutter, Christine Pichler, lernte ebenfalls im väterlichen Betrieb und war 1987 die erste Frau in Niederbayern, die den Meistertitel im Orthopädieschuhmacher-Handwerk erlangte.
Die Ausbildung
Danach machte Raphael Pichler die dreieinhalbjährige Ausbildung, die ein breites theoretisches und praktisches Fachwissen vermittelt. Hier erlernt man das traditionelle Handwerk eines Schuhmachers und schleift, hämmert, zwickt, sägt und nagelt. Aber auch medizinisches Wissen wird vermittelt. Bis zur Hüfte lernt ein Orthopädieschuhmacher alle Knochen, Sehnen und Muskel des Menschen kennen, und wie alles miteinander zusammenspielt. Etwa welche Auswirkungen Störungen auf die Beweglichkeit und den Bewegungsapparat haben. Hinzu kommt das Wissen um die Krankheiten – von Arthrose über Diabetes, Fersensporn und Hallux valgus-Deformitäten bis hin zum Lymphödem. Außerdem lernt ein Orthopädieschuhmacher, wie man Patientenakten und Rezepte liest, um Aufträge korrekt abzuwickeln.
Wer sich für eine Ausbildung interessiert, für den hat Pichler wertvolle Tipps. „Man sollte keine Hemmungen haben, Füße anzufassen, und auch Blut sehen können. Man braucht medizinisches Interesse, handwerkliches Geschick und ein hohes Maß an Sozialkompetenz und Einfühlungsvermögen“, sagt er. Ansonsten sollte man mit Computern umgehen können und im wahrsten Sinne des Wortes standfest sein, da man auch mal länger an einer Maschine steht. Es ist eine Mischung aus Handwerk, Technik und Kundenkontakt.
Das Ausbildungsgehalt bewegt sich nach dem Vorschlag der Landesinnung aktuell bei 635 Euro im ersten Lehrjahr und steigt dann jährlich bis zum letzten Lehrjahr auf 840 Euro an.
„Wanderjahre“
Raphael Pichler legte 2013 seine Gesellenprüfung an der Berufsschule in München als Kammersieger ab und fing an im elterlichen Betrieb zu arbeiten an. Bald zog es ihn aber in den Bayerischen Wald, um dort von einem Kollegen das Haferlschuh bauen zu erlernen. Jede Naht wird mit der Hand gemacht, sogar der „Schuster-Draht“ wird eigenständig aus Hanf, Pech und Bienenwachs hergestellt.
„Du musst auch andere Wege gehen, Kollegen sowie ihre Ansichten und Arbeitsweisen kennenlernen“, zitiert Raphael seine Mutter. 2015 folgte noch ein halbes Jahr im schwäbischen Baden-Württemberg bei einem befreundeten Kollegen, und „da lernte ich dann das Sparen“, sagt Pichler mit einem Lächeln.
Meisterhaft
Im Jahr darauf, im April 2016, begann Raphael dann seine Ausbildung zum Meister an der Handwerkskammer in Landshut-Schönbrunn, der einzigen Meisterschule für den Fachbereich im süddeutschen Raum. Die Meisterklassen umfassen immer zwölf Schüler. Sie sind fast immer bis zu drei Jahre im Voraus ausgebucht. Es ist ein Beruf mit Zukunft, denn „schlechte Füße gehen nicht aus“, sagt Pichler. Die Menschen werden immer älter und sind später oft auf Hilfe angewiesen. Der Bedarf ist da und die Arbeitsplätze sind sicher. Neben der Möglichkeit, sich mit einem eigenen Betrieb selbstständig zu machen, finden Orthopädieschuhmacher Arbeitsplätze in Sanitätshäusern, Kliniken und Schuhfachgeschäften.
„Meine Mama war am Anfang gar nicht begeistert, dass ich den Betrieb übernehmen wollte. Die Auflagen der Krankenkassen für die Abrechnungen werden immer strenger und die Preise von Fertigprodukten gedrückt, worunter das Handwerk leidet. Das bereitet ihr Sorgen. Aber die Vorteile haben für mich klar überwogen“, sagt Pichler. Er schätzt die Vorteile des Familienunternehmens mit den flachen Hierarchien, die familiären Kundenkontakte und die Sinnhaftigkeit seines Berufes.
Der Moment, als er wusste, dass er richtig liegt, und das Richtige macht, war kurz nach seiner Meisterprüfung. „Damals hatte ich eine Kundin, die mit nur 45 Jahren nach einem Gehirnschlag an den Rollstuhl gebunden war. Da alle Muskeln bei ihr verkrampften, konnte sie nicht mehr stehen – nicht einmal zum Zähneputzen. Wir haben ihr dann einen Schuh mit hoher Carbonkappe entwickelt und sie konnte nach einem Dreiviertel Jahr zum ersten Mal wieder in unserer Werkstatt stehen und mit der Hilfe eines Rollators sogar gehen. Sie war so überwältigt, dass sie weinen musste.“
Wie geht`s weiter? – die Perspektiven
Mit dem Meister in der Tasche hat Raphael Pichler noch weitere Weiterbildungsmöglichkeiten. Er könnte die Fachrichtung Technische-Orthopädie studieren -. Sportwissenschaft wäre ebenfalls eine Option oder eine Weiterbildung zum Betriebswirt des Handwerks. Zudem besucht er jährlich Kurse in ganz Deutschland um das Fachwissen zu erweitern, denn die Medizin steht nie still. Was natürlich immer geht, sind Spezialisierungen als Schuhmacher – wie bei Pichler, der nun seine maßgefertigten Haferlschuhe anbieten kann. Aktuell freut er sich aber erst mal auf seine nächste Anschaffung: eine CNC-Fräse für die Einlagenfertigung.
Info
Jeder Innungsbetrieb in der Region meldet seine Ausbildungsplätze zentral bei der Landessinnung Bayern. Weitere Infos unter www.liostbayern.de/ausbildung/